Nach intensiver Debatte: Neue Startzeit für US-Trials
Der Startschuss für die US-Trials im Marathon am 3. Februar in Orlando fällt nun um 10 Uhr vormittags und nicht wie geplant zur Mittagsstunde. Der Entscheidung ging eine mehrwöchige und intensive Debatte voraus, in der starke Argumente aneinander prallten.

© Public Domain Pictures / Pixabay
Die Amerikaner haben ihre Marathon-Giganten in Boston, Chicago und New York. Straßenfeste und TV-Highlights, Jahr für Jahr! Doch alle vier Jahre gibt es einen Marathon-Event, der in der Bedeutung Vergleichbares erreicht und unter dem patriotischen Gesichtspunkt für den Marathonsport in der USA sogar noch deutlich wichtiger ist: die US-Marathon-Trials. Schließlich ist dies der am besten besetzte Marathon aus rein amerikanischer Sicht überhaupt. Zweitens fällt hier die Entscheidung, wer die Vereinigten Staaten von Amerika bei den Olympischen Spielen vertreten darf. Olympia ist das Sehnsuchtsziel aller Sportlerinnen und Sportler der Welt, aber in den USA scheint die Bedeutung der Vertretung einer ganzen Nation beim wichtigsten Sportevent der Welt kulturell ein bisschen exquisiter als anderswo. Am ersten Samstag im Februar ist es wieder soweit: In Orlando im US-Bundesstaat Florida geht es auf einem 42,195 Kilometer langen Kurs um nichts weniger als um: to be or not to be. Mit dem Zusatz: falls die Qualifikationsanforderung von World Athletics erfüllt sind.
Späte Bekanntgabe der Florida-Premiere für Trials
Die Marathon-Trials für die Olympischen Spiele von Paris 2024 standen von Beginn an unter keinem guten Stern. Je länger der US-amerikanische Leichtathletik-Verband (USATF) keinen Austragungsort kommunizieren konnte und je mehr er deswegen in Deckung gehen musste, desto mehr Spekulationen wurden in amerikanischen Medien geführt. So soll auch die wirtschaftliche Perspektive der Umsetzung der Organisation nicht so rosig sein.
Am 8. November 2022, spät wie selten zuvor, gab die USATF den Austragungsort der Marathon-Trials bekannt. Am 1. August 2023 veröffentlichte der Veranstalter die Startzeiten: 12:10 Uhr die Männer, 12:20 Uhr die Frauen. Unüblich ist das nicht: Auch die Marathon-Trials auf dem selektiven Kurs in Atlanta wurden 2020 zur Mittagszeit gestartet, jene von Los Angeles 2016 lokal freilich um 10 Uhr vormittags, das ist Ostküstenzeit 13 Uhr.
Angst vor hohen Temperaturen
Es folgte ein Aufschrei im Kreis der Athletinnen und Athleten. Denn Orlando liegt weit im Süden der USA, wo es auch in den Wintermonaten zu Wetterbedingungen kommen kann, die nicht ideal fürs Marathonlaufen sind. Und schon gar nicht in den Mittagsstunden, in denen laut Wetteraufzeichnungen im Negativszenario auch sommerliche Temperaturen drohen. Erfahrungen wie etwa bei den Trials 2016 in Los Angeles belegen das. Damals konnte ein Drittel des Männer- und ein Viertel des Frauenfeldes das Rennen nicht beenden. Shalane Flanagan, zu dieser Zeit die beste Marathonläuferin der USA und später auch Siegerin des New York City Marathon, brach im Ziel entkräftet zusammen und wurde im Rollstuhl aus dem Zielbereich gebracht. Nachher sagte sie gegenüber Runners’World, sie wäre bei jedem anderen Rennen fünf Kilometer vor dem Ende sicher ausgestiegen und hätte niemals so Extremes erlebt wie damals in der Schlussphase. Jared Ward, seinerzeit Dritter, erzählte gegenüber Let’sRun.com, er hätte damals kaum genügend Flüssigkeit für die Dopingkontrolle nach dem Rennen aufnehmen können und außerdem hätte seine Erholungsphase von einem Marathon nie so lange gedauert wie nach den Trials vor knapp acht Jahren.
Die Pflicht der schnellen Zeiten
An dieser Stelle greift die Problematik des aktuellen Qualifikationssystems. Vor den Spielen in Tokio 2020, die dann bekanntermaßen fast eineinhalb Jahren nach den Trials in Atlanta stattfanden, handelte der US-amerikanische Verband eine Ausnahmeregel mit World Athletics aus, so dass auf jeden Fall die Top-Drei der Marathon-Trials ihren Startplatz bei Olympia sicher hatten. Also ganz nach der Essenz der Trials. Diese Ausnahme gestattet der Leichtathletik-Weltverband den Amerikanern dieses Mal nicht mehr. Das bedeutet: Ein Top-Drei-Platz bei den Trials muss mit dem Olympia-Limit oder einer Qualifikation über die Weltrangliste gedeckt sein, damit es zum Olympia-Start kommt. Das alles mag bei den Frauen keine Rolle spielen, 13 Läuferinnen haben das Limit erreicht, 13 weitere Läuferinnen wären gegenwärtig innerhalb des Teils des World Rankings, der in bereinigter Liste (maximal drei Athletinnen pro Nation, Anm.) eine Qualifikation für Paris vorsieht. Das ist bei den Männern ganz anders: Nur Conner Mantz und Clayton Young haben das Olympia-Limit von 2:08:10 Stunden unterboten. Immerhin hätten 15 amerikanische Läufer, darunter auch Scott Fauble und Galen Rupp, einen aussichtsreichen Punktestand für die Weltrangliste – freilich mit Fragezeichen, denn der Qualifikationszeitraum für die Olympischen Spiele ist noch bis 5. Mai geöffnet. Und im Gegensatz zu den Trials-Teilnehmern können Läuferinnen und Läufer weltweit noch auf den schnellsten Marathonstrecken der Welt antreten.
Die Schlussfolgerung daraus: Die Athletinnen und Athleten haben ein gewichtiges Interesse, bei den Marathon-Trials trotz der traditionellen Absenz von Pacemakern schnelle Zeiten zu laufen. Und dafür ist die Wahrscheinlichkeit in der Mittagssonne wesentlich geringer als in der Morgenfrische. Jared Ward, Olympia-Teilnehmer von Rio 2016, und Routinier Sara Hall organisierten einen Offenen Brief des Protests an den Verband, den knapp 100 Läuferinnen und Läufer zeichneten. Darin machten die Aktiven ihren Wunsch einer früheren Startzeit deutlich, bevorzugt in den frühen Morgenstunden. In diesem Schreiben wurde auch Dr. William Roberts, Chefarzt des American College of Sports Medicine, zitiert: „Startzeiten in der Nähe des Sonnenaufgangs sind die sichersten für die Läufer und verbessern die Leistungen auf der Marathon-Distanz, speziell in Umgebungen mit hoher Luftfeuchtigkeit. Der vorgeschlagene Start zur Mittagszeit zwingt die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, etwa drei Monate lang in den schlechtesten Bedingungen zu trainieren, um das wichtigste Rennen ihrer Karrieren bestmöglich vorzubereiten.“ Recht bald kam eine negative Reaktion von offizieller Seite, der bereits unterzeichnete Vertrag mit TV-Sender NBC Sports sowie die Organisationslogistik bedrängten den Flexibilitätsrahmen.
Weiteren Raum für Spekulationen öffnete ein Bericht auf der Plattform „Runner’s World“, der darauf Bezug nahm, dass der US-amerikanische Leichtathletik-Verband und der lokale Veranstalter keinen schriftlichen Vertrag unterzeichnet hatten. Den Gedanken, Orlando die Trials zu entziehen, nahm auch Christopher Kelsall auf, erfahrener Laufsport-Journalist für die kanadische Plattform „Athletics Illustrated“. Er fragte sich, warum der USATF die Trials nicht einfach in den Rahmen des Houston Marathon am 14. Jänner 2024, einem international anerkannten Marathonlauf, gelegt hat – und zwar prinzipiell. Eine schnelle Strecke und eine frühe Startzeit wären in der texanischen Metropole gegeben.
Neuer Start um 10
Die am vergangenen Mittwoch in den USA von der USATF, dem US-amerikanischen Olympischen Komitee und der veranstaltenden Organisation getroffene Entscheidung, den Startschuss um zwei Stunden auf 10 Uhr morgens vorzulegen, erfolgte laut offiziellem Statement in Zusammenarbeit und in Konsultation mit den Athleten. Und nach etlichen, extensiven Meetings mit diversen Stakeholders. Max Siegel, CEO des amerikanischen Leichtathletik-Verbandes, bezeichnete sie in einem offiziellen Statement als „beste für Athleten und Fans“. Für die Athleten ist dies maximal ein Kompromiss, sie forderten schließlich eine Startzeit spätestens um 7 Uhr früh. Laut eines Berichts von Runner’s World war der lokale Organisator, der erheblichen finanziellen Schaden als Argument in die Runde führte, die Hauptbremse für eine weitere Vorverlegung. Ursprünglich hielt er lange an der Mittagsstartzeit fest. Dem widersprach das lokale Organisationsteam und spielte den Schwarzen Peter zurück zum Verband.
Letztlich ist es ein Kompromiss, der auch für die Sportlerinnen und Sportler zwei Seiten hat. Denn die Marathon-Trials sind nur so lange so bedeutend, so lange auch die entsprechende Vermarktung gelingt. Eine dreistündige, nationale TV-Übertragung mit vollem Fokus auf den Marathon und seine Athletinnen und Athleten – und das mit der Herausforderung der vier US-Zeitzonen – ist auch für die Sportart eine außergewöhnliche Plattform. Entertainment-Produkt versus Athletenbedürfnisse – das ist wahrlich keine neue Debatte, bestenfalls ein weiteres Kapitel. Aber dieses Mal ist dem Athletenkreis mit seiner Vehemenz ein (Teil-)Erfolg gelungen.
US-Marathon-Trials 2024 in Orlando