Hellen Obiri triumphiert nach Boston auch in New York
Ein Jahr nach ihrem Marathon-Debüt, bei dem sie sich ihre „Marathon-Hörner“ auf unsanfte Weise abgestoßen hat, ließ Hellen Obiri Letesenbet Gidey im Duell der ehemaligen – und im Falle von Gidey noch aktuellen – Bahnstars im Endspurt entlang der langgezogenen Zielkurve, die fast eine Gerade darstellt, keine Chance und sicherte sich das historische Double bei den beiden US-Traditionsmarathons an der Ostküste. Noch gehört die 33-Jährige nicht zu den schnellsten Marathonläuferinnen der Welt, wenige Monate vor den Olympischen Spielen aber definitiv zu den besten. Auch wenn die Siegerzeit keinen Glanz versprühte.

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Ingrid Kristiansen. Mit dem Namen der norwegischen und europäischen Lauflegende, die den Marathonlauf der Frauen in der zweiten Hälfte der 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entscheidend mit dominiert hat, wird Hellen Obiri in diesen Tagen des Öfteren in einem Atemzug genannt. Die Ausnahmeläuferin aus Trondheim, die 13 Jahre lang den Marathon-Weltrekord gehalten hat, war die letzte Läuferin, die im selben Kalenderjahr den Boston Marathon im Frühjahr und den New York City Marathon im Herbst gewonnen hat. 34 Jahre ist das her, ehe diese Ausnahmeleistung der Kenianerin, zweimal Weltmeisterin im 5.000m-Lauf und einmal im Crosslauf, neuerlich glückte. Sie ist die insgesamt Fünfte Parallel-Siegerin in den Annalen der beiden Traditionsmarathons, die seit 1971 auch bei den Frauen eine gemeinsame Geschichte haben. Die US-Amerikanerinnen Nina Kuscsik (1972) und Miki Gorman (1977) sowie die Neuseeländerin Allison Roe (1981) wussten in den Pionierjahren des Frauen-Marathons wohl noch nicht, welch selten Leistung Marathonsiege in Boston und New York binnen sechs Monaten sein würden.
Abwarten auf die Crunchtime
Die aufregendste Marathon-Startaufstellung der Herbstsaison und die vielleicht beste, die der New York City Marathon bei den Frauen je gesehen hat, verknüpfte höchste Erwartungen mit dem Rennen am vergangenen Sonntag. Diese Erwartungen konnte das hochkarätige Elitefeld der Frauen mit einem spannenden Wettkampf insbesondere im Schlussviertel definitiv halten, nicht jedoch was die gesamtdurchschnittliche Laufgeschwindigkeit betraf. Am Ende war die Siegeszeit von 2:27:23 Stunden die langsamste am „Big Apple“ seit 2010 und die drittlangsamste in 25 Jahren. Gut wie selten zuvor schienen die Chancen auf eine Verbesserung des Streckenrekords von Margaret Okayo, der nun in sein drittes Jahrzehnt geht. Doch während bei anderen Veranstaltungen eine derartige Qualität im Feld durch ein wahnsinnig hohes Tempo der Tempomacherinnen auf Weltklassezeit getrimmt worden wäre, galt für den traditionell ohne Tempomacherinnen durchgeführten Wettkampf beim New York City Marathon das Sprichwort: Viele Köchinnen verderben den Brei. Denn keine der Stars wollte sich durch frühe Initiativen und riskante taktische Entscheidungen in die Gefahr eines Nachteils gegenüber der Konkurrenz begeben. Schon einmal gar nicht Olympiasiegerin Peres Jepchirchir, die wie befürchtet aufgrund einer bei einem der letzten Trainingsläufe erlittenen Wadenverletzung auf den Start verzichtete.
Hellen Obiris 5km-Teilzeiten: 17:23 / 17:15 / 17:52 / 17:51 / 18:18 / 18:29 / 17:38 / 15:58 / 6:39 (2,195 km) Minuten
Andere Hauptprotagonistinnen wie Hellen Obiri und Letesenbet Gidey vertrauten bewusst auf ihre Stärken in der Marathon-Schlussphase. Und so war das Rennen lange Zeit wie die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. Fast 35 Kilometer lang. Als Tamirat Tola im 25 Minuten später gestarteten Männerrennen die schnellsten Splits des Rennens auf den Asphalt knallte, absolvierte die Frauen-Spitze die langsamsten Schritte des Rennens. Kellyn Taylor aus den USA führte nach 30 Kilometern direkt vor einer Phalanx prominenter Läuferinnen.
Spätes Ende der Geduldsphase
Es war Viola Cheptoo, 2021 Überraschungszweite bei diesem Rennen, die als Erste beschleunigte – nach rund zwei Stunden Laufzeit. Die Führungsgruppe war längst im Central Park angekommen. Vorjahressiegerin Sharon Lokedi unterstützte ihre Landsfrau. Beide, trotz ihrer New Yorker Vorleistungen, wussten um ihre Außenseiterrollen, insbesondere in einem endspurtähnlichen Finale gegen Obiri und Gidey mit deren reichhaltigen Erfahrungen auf den Unterdistanzen. Beide folgten sichtlich mühelos, während die Olympia-Silbermedaillengewinnerin und ehemalige Weltrekordhalterin, Brigid Kosgei immer wieder in den hügeligen Passagen der Schlussphase leicht den Kontakt zur Spitzengruppe reißen lassen musste. Um wie im Ziehharmonika-Effekt Sekunden später wieder die Fersen der Vorderfrau anzuvisieren.
Ein dramatisches Finale, das für alles entschädigte
Doch Kosgei, am Ende Vierte, war geschlagen. Cheptoo brach plötzlich und drastischer weg, sie sollte die Ziellinie als Sechste überqueren. Obiri und Gidey belauerten sich im Beisein der Vorjahressiegerin und die Kenianerin ließ all ihre taktische Raffinesse ins Spiel einfließen. In einer der entscheidendsten Kurven im Central Park, wo Jepchirchir 2021 ihren entscheidenden Angriff lancierte, schnitt sie der Äthiopierin von außen kommend elegant und effektiv, aber dennoch empfindlich den Weg ab. Obiri hatte sich im richtigen Moment an die Spitze gesetzt und zog den Spurt von vorne – unnachahmlich in ihrem eigenen Laufstil, aber dennoch kraftvoll und unwiderstehlich. Warum die Äthiopierin auf dem 43. Kilometer mehrfach an ihrem Singlet und ihren Accessoires herumnestelte, soll ihr Geheimnis blieben. Sie war chancenlos und beendete auch ihren zweiten Marathon auf dem zweiten Platz. Dennoch hinterließ die 25-Jährige, die zu Jahresbeginn auf dem Weg zum Crosslauf-WM-Titel in Bathurst auf der Zielgerade kollabierte, einen insgesamt starken Eindruck. Vor eineinhalb Jahren im Rahmen der Weltmeisterschaften von Oregon hatte Gidey im 10.000m-Lauf WM-Gold in einem haarscharfen Duell gegen Obiri gewonnen, dieses Mal hatte die Kenianerin das bessere Ende für sich. Lokedi, die mit Platz zwei beim Great North Run im September ihr Comeback nach längerer Pause gegeben hatte, finishte als Dritte zehn Sekunden hinter Obiri. Wahrlich kein schlechtes Resultat im Umfeld dieser Weltklasse.
Und schnell war das Rennen im Finale auch noch, logischerweise. Bereits der Split zwischen Kilometer 35 und 40, in New York topografisch wahrlich kein einfacher, lag unter 16 Minuten. Das absolute Finale aber war der Wahnsinn und unter diesem Eindruck ist der Zieleinlauf mit seinen geringen Abständen zu lesen. Von Kilometer 40 bis ins Ziel brauchte Obiri trotz der nicht flachen Streckenpassagen dort sage und schreibe nur sechs Minuten und 39 Sekunden. Sie war damit in diesem Abschnitt sogar um elf Sekunden schneller als Tamirat Tola wenige Minuten später. Auch Gidey finishte von Kilometer 40 an schneller als ihr bei den Männern siegreicher Landsmann. Das zeigt, welch enormes Kräftereservoir die besten Läuferinnen des Feldes nach den ersten, nicht sehr kraftraubenden 35 Kilometern im Finale noch hatten.
Perfekte erste volle US-Saison
Der erste Gratulant Obiris im Ziel war ihr Trainer Dathan Ritzenhein und vielleicht war es gleichzeitig eine Gratulation in seine Richtung. Dass die Kenianerin als eine der erfolgreichsten Bahnläuferin der letzten Jahre im Zuge eines Sponsorenwechsels zu On und des Wechsels in den Straßenlauf ihre Zelte in Kenia abgebrochen und sich vor gut einem Jahr zum Umzug mit ihrer Familie inklusive Tochter Tania nach Colorado entschlossen hat, hat sich sportlich nach den Triumphen in Boston und New York gelohnt. Auch wenn der neue Weltrekord und auch die kenianischen Spitzenzeiten des Jahres in anderen Dimensionen scheinen, möglicherweise ein gewaltiger Trugschluss, wird das Auswahlverfahren der kenianischen Verbandsfunktionäre für die Olympia-Teams von Paris 2024 kaum mehr an Obiri vorbeiführen. Vor allem wenn man die selektive Kursführung in der französischen Hauptstadt hinauf zu Schloss Versailles bedenkt. Obiri selbst übte auch gleich Druck aus und gab den Gewinn der Goldmedaille bei den kommenden Olympischen Spielen nach dem Sieg am Sonntag als nächstes Ziel aus.
Die Entscheidung Ritzenheins, der die US-Marathons aus eigenen Erfahrungen mit all ihren Tücken und Herausforderungen kennt, Obiris vorwiegend bei US-Rennen an den Start zu schicken, hat sich rentiert. Er hat erkannt, dass seine Athletin auf den selektiven Strecken dieser Marathonläufe ihre Stärken ausspielen und sich auf diese in Colorado bestens vorbereiten kann.
Taylor und Huddle in den Top-Ten
Gidey war die einzige Nicht-Kenianerin auf den ersten sieben Positionen. Als Achte kam Taylor in einer Zeit von 2:29:48 Stunden als beste Amerikanerin ins Ziel, gut zwei Minuten später folgte Molly Huddle. Beide Routiniers haben ihre Marathon-Comebacks nach Babypausen gegeben.
51.280 Läuferinnen und Läufer mit rund 150 unterschiedlichen Nationalitäten und aus allen 50 US-Bundesstaaten finishten den diesjährigen New York City Marathon, eine unübertroffene Zahl im Marathonjahr 2023. 22.771 waren weiblich, das sind beachtliche 44,4%. 0,18% der ins Ziel kommenden hatten sich bei der Anmeldung weder für die männliche noch weibliche Kategorie eingetragen.
Ergebnis TCS New York City Marathon 2023 der Frauen
- Hellen Obiri (KEN) 2:27:23 Stunden
- Letesenbet Gidey (ETH) 2:27:29 Stunden
- Sharon Lokedi (KEN) 2:27:33 Stunden
- Brigid Kosgei (KEN) 2:27:45 Stunden
- Mary Ngugi (KEN) 2:27:53 Stunden
- Viola Cheptoo (KEN) 2:28:11 Stunden
- Edna Kiplagat (KEN) 2:29:40 Stunden
- Kellyn Taylor (USA) 2:29:48 Stunden
- Molly Huddle (USA) 2:32:02 Stunden
- Fantu Jifar (ETH) 2:34:10 Stunden
- Solange Jesus (POR) 2:34:37 Stunden
- Sydney Devore (USA) 2:36:01 Stunden
- Marie-Ange Brumelot (FRA) 2:40:22 Stunden
- Ivana Iozzia (ITA) 2:41:16 Stunden
- Meriah Earle (USA) 2:44:11 Stunden