Crippas mit Spannung erwartetes Marathon-Debüt
Am Sonntag könnte die Karriere eines neuen europäischen Marathonstars beginnen. Beim Mailand Marathon läuft Yemaneberhan Crippa seinen ersten Wettkampf über die Traditionsdistanz. Die Leistungen auf den Unterdistanzen mit etlichen nationalen Rekorden kündigen Großes an.

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„Ich spüre eine besondere Anspannung, aber eine positive“, gibt Yemaneberhan Crippa in einem Vorbericht auf das Marathon-Debüt der italienischen Nummer eins im Laufsport am Sonntag im Rahmen des Mailand Marathon auf der Website des Italienischen Leichtathletik-Verbandes (FIDAL) zu. Und hält gleich den Ball flach. Es gehe ihm weniger um die Zeit, sondern viel mehr um die Erfahrungen und um die Frage, ob der Marathon die Disziplin für seine Zukunft sei. Daher lautet sein Motto für das Marathon-Abenteuer: „Ich will den Marathon kosten.“ Direkt übersetzt klingt es, als würde er erstmals zu einem Sieben-Gänge-Menü in ein Mailänder Top-Restaurant schreiten, die Übersetzung ins Deutsche soll eher sinnbildlich begriffen werden. Aber vielleicht, vermutlich nicht direkt hinter der Ziellinie, ist das Gefühl im Nachgang ähnlich wie nach einem gelungenen Gala-Dinner.
Spitzenläufer aus dem Waisenhaus
Die Geschichte Yemaneberhan Crippas ist in der italienischen Laufszene bestens bekannt und wurde auch auf RunAustria schon des öfteren erzählt. Das damals in Mailand wohnhafte Paar Roberto und Luisa Crippa adaptierte drei äthiopische Geschwister, die im Krieg zwischen Äthiopien und Eritrea beide Elternteile verloren haben und in einem Waisenhaus gelandet sind. Insgesamt neun Kinder aus Äthiopien nahmen die Crippas auf und zogen in die Berge der norditalienischen Provinz Trentino. Das war 2001, Yemane, wie der jüngste der drei Brüder von allen gerufen wird, war damals keine fünf Jahre alt. Im idealen Umfeld des Trentino, wo heute einige der italienischen Topläufer trainieren und leben (z.B. auch Nadia Battocletti), entwickelte sich der talentierte Läufer zu einem Athlet mit internationalem Format.
Mittlerweile hält der 26-Jährige die italienischen Rekorde vom 3.000m-Lauf aufwärts in allen Disziplinen mit Ausnahme des 10km-Straßenlaufs bis hin zum Halbmarathon. Jener über 10.000m führte ihn beispielsweise zum achten Platz bei der WM 2019 in Doha. Bei den Europameisterschaften in München 2022 gewann er über 10.000m und holte über die halbe Distanz hinter Jakob Ingebrigtsen und Mohamed Katir Bronze. Der italienische Halbmarathonrekord gelang ihm beim Debüt 2022 in Neapel in einer Zeit von 59:26 Minuten – nur ein Europäer war jemals schneller, Julien Wanders.
Diese Leistung erweckt Hoffnungen auf ein Marathon-Debüt mit Spitzenleistung, die italienische Debüt-Bestleistung hält Iliass Aoauni, der vor einem Jahr in Mailand eine Zeit von 2:08:34 Stunden gelaufen ist und seit dem Barcelona Marathon vor zwei Wochen den italienischen Marathon-Rekord hält. Auf diese Zeit, 2:07:16 Stunden, ist die Taktik Crippas am Sonntag ausgelegt, eine Halbmarathon-Durchgangszeit von 1:03:20 Stunden wird anvisiert. „Man sagt, je mehr Marathonläufe man in den Beinen hat, desto besser versteht man den Marathon. Für mich ist alles Neuland, aber Iliass ist auch in seinem zweiten Marathon den Rekord gelaufen. Am Ende kommt es auf mich an“, kündigt der Italiener an. Die Wetterbedingungen sind vielversprechend: wenig Wind und Temperaturen um die 12°C. bei einem Mix aus Sonne und einer leichten Wolkendecke.
Hohes Niveau im Training
Crippa trainierte im Winter drei Wochen lang in Monte Gordo, wo etwa auch der heimische Marathon-Rekordhalter Peter Herzog staunend berichtete, auf welch hohem Niveau der Italiener neben ihm auf der Laufbahn sein Programm abspulte. Nach zwei Crosslauf-Auftritten in Italien reiste Crippa ins Trainingslager nach Iten, aus dem er nach sechs Wochen Mitte März zurückkehrte. „Mein Körper hat gut auf die Trainingsbelastungen reagiert“, berichtet er. Er habe gelebt wie die Kenianer und im Training mit Läufern mithalten können, die Bestleistungen von 2:05 und 2:06 Stunden aufweisen, die im Trainingszyklus für den am selben Tag stattfindenden Paris Marathon waren. Zwei weitere Trainingskollegen in Kenia dienen ihm am Sonntag als Tempomacher. Dabei blieb er in Iten mit seinem durchschnittlichen Trainingspensum pro Woche unter der Marke von 170 Kilometern.
Yaremchuk zielt auf Bestleistung ab
Auch im Feld der Frauen befindet sich mit Sofiia Yaremchuk eine italienische Spitzenläuferin. Die in der Ukraine geborene 28-Jährige, die seit vielen Jahren in Italien lebt und seit 2021 für Italien startberechtigt ist und ab Oktober 2023 (also rechtzeitig für die Olympischen Spiele) den italienischen Verband auch bei internationalen Meisterschaften repräsentieren darf, hat sich mit einer Halbmarathon-Zeit von 1:08:49 Stunden beim Halbmarathon von Rom nach Ostia für ihren dritten Marathon eingestimmt. Im Oktober war Yaremchuk Vierte beim Frankfurt Marathon in einer Zeit von 2:25:36 Stunden und diese persönliche Bestleistung würde sie gerne am Sonntag verbessern. Für dieses Ziel kommt sie in den Genuss zweiter persönlicher Tempomacher: Trainingspartner Marco Salami und Marouan Razine. „Der Marathon beginnt am 37. Kilometer“, meint sie. Die geplante Halbmarathon-Durchgangszeit liegt bei einer Zeit von 1:12:00 Stunden und damit sogar, in der rechnerischen Verdopplung, in der Nähe des italienischen Rekordes. Yaremchuk hat zuletzt einen Monat lang in Kenia trainiert.
Spitzenleute beim diesjährigen Mailand Marathon sind der kenianische Routinier Dickson Chumba, der seinen letzten Marathon im Top-Bereich vor fünf Jahren absolviert hat, der Äthiopier Solomon Deksisa, Sieger des Hamburg Marathon 2018 und Top-Platzierter bei Marathons in Amsterdam und Rotterdam sowie der Kenianer Gideon Kipketer, Zweiter beim Tokio Marathon 2017. Bei den Frauen führen mit Bontu Bekele aus Äthiopien und Emily Arusio aus Kenia zwei international eher unbekannte Läuferinnen das Feld an.
Bis zu 30.000 Läuferinnen und Läufer erwartet der Veranstalter beim Mailand Marathon, der neben dem Marathon auch einen großen Staffelmarathon (mit 3.250 angemeldeten Staffeln) beinhaltet. Der Mailand Marathon hat 2022 erstmals eine Auszeichnung als klimaneutrales Event erhalten, heuer gelang die Wiederholung. Basis dafür ist ein ambitioniertes Nachhaltigkeitskonzept der Veranstaltung in Zusammenarbeit mit einer deutschen Argumentation. Das Thema ist in Mailand ein brennendes, keine andere europäische Großstadt übersteigt die EU-Grenzwerte für Feinstaubpartikel in der Luft häufiger als die norditalienische.