Wanders vor lang ersehntem Marathon-Debüt
Einer der talentiertesten Straßenläufer der europäischen Laufsportgeschichte feiert am Sonntag in Paris seine Premiere im Marathon. Julien Wanders gibt sich zuversichtlich und übt sich in Zurückhaltung. Offensiver kommuniziert Lokalmatador Morhad Amdouni. Die 41-jährige Helalia Johannes führt das Elitefeld der Frauen, Chicago-Sieger Seifu Tura jenes der Männer an.

Die drei österreichischen Halbmarathon-WM-Teilnehmer Lemawork Ketema (l.), Peter Herzog und Christian Steinhammer (r.) gemeinsam mit dem Schweizer Julien Wanders. © SIP / René van Zee
Aus Julien Wanders Gesicht schimmert immer noch eine gewisse jugendliche Frische, auch wenn sein Dreitagebart um die Mund-Partie eine gewisse Reife hinzufügt. Der Westschweizer, der seinen Lebensmittelpunkt seit vielen Jahren im kenianischen Hochland hat, sein Läuferleben der kenianischen Art nachempfindet und unter der Anleitung vom mittlerweile 77-jährigen italienischen Coaching-Routinier Renato Canova akribisch trainiert, ist mittlerweile 26 Jahre alt und kann auf eine großartige Liste an Erfolgen zurückblicken. Er bestritt Olympische, WM- und EM-Finals, gewann 2019 eine Medaille bei Crosslauf-Europameisterschaften, war als bester Europäer Achter bei der Halbmarathon-WM 2018 und ist Europarekordhalter im 10km-Lauf und Halbmarathon. Dass er seine Stärke in Verbindung mit Asphalt unter den Sohlen abrufen kann, ist angesichts dessen offensichtlich. Sein Halbmarathon-Europarekord von 59:13 Minuten aus dem Jahr 2019 war eine deutliche Steigerung zum Vorgänger von Superstar Mo Farah, Yemaneberhan Crippa kam zuletzt bis auf 13 Sekunden heran. Jener über zehn Kilometer, wo Wanders die drei schnellsten europäischen Zeiten hält und 26 Sekunden schneller gelaufen ist als der zweitbeste Europäer der Geschichte (Zerei Kbrom aus Norwegen), ist gar noch eindrucksvoller.
Seit Monaten wieder im normalen Training
Aus gesundheitlichen Gründen hat der Schweizer nach 2019 etwas an Schwung verloren, sein Coach berichtete einmal in einem Interview von Problemen in der Wade, Hüfte und anhaltenden Fußschmerzen, die sich negativ auf seinen Laufstil ausgewirkt hätten. Sein rasanter Aufstieg hätte ohnehin nicht in diesem Tempo fortgesetzt werden. Daher kommt das Marathon-Debüt, das viele schon lang herbeisehnen, kolpotiert auch er selbst, vermeintlich zu einem günstigen Zeitpunkt. Denn seit dem letzten Jahresviertel sind die körperlichen Probleme gelöst. Es ist wie das Eröffnen eines neuen Kapitels und mit der Halbmarathon-Generalprobe von Neapel (1:00:28) ist der Optimismus auf einen guten Einstieg in den Marathon gegeben.
Gerät der Schweizer Rekord in Reichweite?
Die vom Schweizer Leichtathletik-Verband (Swiss Athletics) kommunizierte Erwartung eines Debüts klar unter 2:10 Stunden klingt recht unkonkret. Das ist in den Schweizer Marathon-Annalen erst zwei Läufern gelungen, den Größen Tadesse Abraham und Viktor Röthlin. Eine Zeit zwischen 2:06 und 2:09 Stunden traue er sich bei idealem Rennverlauf zu, wird der Athlet selbst kaum präziser, aber angriffslustiger. Der Grund: „Ein erster Marathon ist immer etwas Unbekanntes. Ich bleibe lieber vorsichtig und lasse die Beine sprechen“, wird Wanders von der Schweizer Nachrichtenagentur SDA zitiert. Der eine Pol würde einen Schweizer Rekord bedeuten. Für die ideale Renngestaltung sollen seine persönlichen, kenianischen Pacemaker Boniface Kibiwott und Matthew Kibarus sorgen.
Amdouni nimmt französischen Rekord in den Mund
Wanders ist direkt aus Kenia in die „Stadt der Liebe“ geflogen. Sorgen aufgrund der Distanz mache er sich keine, er habe sich im Training gut darauf vorbereitet. Unter anderem mit einem 38km-Lauf in einem Tempo von 3:12 Minuten pro Kilometer, in über 2.000m Meereshöhe. Er plant, das Rennen in der zweiten Gruppe anzulaufen und damit konservativer als die Spitze.
Der zweite prominente europäische Läufer im Rennen ist Morhad Amdouni, jener französischer Läufer, der bei den Olympischen Spielen mit einer unfairen Aktion an der Getränkestation aufgefallen ist, als er eine Reihe von Wasserflaschen umstieß, die der ein oder andere Kontrahent gerne getrunken hätte. Der Olympia-17. geht in seinen erst dritten Marathon, möchte auf heimischem Terrain aber den französischen Landesrekord von Benoit Zwierzchlewski aus dem Jahr 2003 attackieren, der lange Zeit als Europarekord geführt wurde. Für die Rekordjagd erwarten den 33-Jährigen allerdings empfindlich tiefe Temperaturen rund um den Gefrierpunkt beim Start, ansonsten Sonnenschein und Windstille.
Eine interessante Notiz: Julien Wanders, ein Franco-Schweizer, dessen Muttersprache französisch ist und der für einen französischen Club startet, hat in der Presseinformation im Vorfeld des Paris Marathon eine höhere Aufmerksamkeit erhalten als der Lokalmatador.
Chicago-Sieger als Favorit
Wanders und Amdouni gehören zu den absoluten Top-Namen im Elitefeld des Paris Marathon. Der Favorit auf den Sieg kommt aus Äthiopien. Seifu Tura hat im Oktober den Chicago Marathon gewonnen, sein mit Abstand größter Erfolg bisher. 2018 in Dubai und 2021 in Mailand ist er unter 2:05 Stunden geblieben, dennoch reichte seine persönliche Bestleistung von 2:04:29 Stunden beim Elitemarathon in der norditalienischen Metropole lediglich zu Rang vier. Einen heißen Kandidat auf eine spezielle Leistung macht ihn auch sein Vorbereitungsrennen: eine klare Halbmarathon-Bestleistung von 58:36 Minuten beim RAK Halbmarathon, drei Sekunden am äthiopischen Rekord vorbei. Zu seinen schärfsten Kontrahenten gehören sein Landsmann Deso Gelmisa und der Kenianer Hillary Kipsambu, die ebenfalls bereits unter 2:05 Stunden gelaufen sind.
41 und kein bisschen langsam
Der bekannteste Name im Elitefeld der Frauen ist die bereits 41 Jahre alte Helalia Johannes aus Namibia, die 2019 in der Hitze von Doha zu WM-Bronze gelaufen ist. Die Landesrekordhalterin, sagenhafte 2:19:52 Stunden im Alter von 40 Jahren beim Valencia Marathon 2020, überzeugte auch 2021 bei den Olympischen Spielen von Tokio als Elfte und als Fünfte beim New York City Marathon. Außerdem ist sie amtierender Champion bei den Commonwealth Games. Ihre Kontrahenten um den Sieg sind die Kenianerin Judith Jeptum, Siegerin des Abu Dhabi Marathon 2021, sowie die Äthiopierinnen Beso Sado, Siegerin des Guadalajara Halbmarathon im Februar und Yenenesh Dinkesa, im Vorjahr Zweite beim Paris Marathon. Die US-Amerikanerinnen Allie Kieffer und Lindsay Flanagan sowie die Australierin Milly Clark sorgen für transkontinentale Ausgeglichenheit, nur eine Top-Europäerin fehlt im Feld.