WM-Marathon der Frauen, Vorschau: Europäische Hoffnungen im Glutofen

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Anfang des Monats teaserte die italienische Lauf-Zeitschrift „Correre“ auf dem Cover ein Interview mit Lonah Chemtai-Salpeter mit den Worten „Die Frau, die es beim WM-Marathon zu schlagen gilt“ an. Eine mutige Wortwahl, schließlich stehen mit der Kenianerin Ruth Chepngetich, neben London-Marathon-Siegerin Brigid Kosgei aktuell der zweite Topstar in der erfolgreichen, aber aufgrund von einer Serie an Dopingfällen bei weitem nicht unumstrittenen Agentur „Rosa Associati“ von Federico Rosa, eine absolute Weltklasseläuferin und mit der Äthiopierin Ruti Aga aus Äthiopien die amtierende Siegerin eines World Marathon Majors, nämlich jenen in Tokio, in der Startaufstellung. Doch die fast wundersame Weiterentwicklung der bereits 30-Jährigen Kenianerin, die seit vielen Jahren in Israel lebt und seit 2016 für den israelischen Verband startet, ist nicht nur in Italien nicht unentdeckt geblieben. Schließlich glänzte die amtierende Europameisterin im strömenden Regen des Florenz Marathon 2018 und beim Halbmarathon von Rom nach Ostia 2019. Noch erfolgreicher als auf italienischem lief Chemtai-Salpeter nur auf tschechischem Boden. Mit einem Halbmarathon von 1:06:09 Stunden, gelaufen Anfang April in Prag, ist sie die ewige Nummer zwei in Europas Halbmarathon-Bestenliste hinter Sifan Hassan. Und mit ihrer Marathon-Bestleistung von 2:19:46 Stunden, Anfang Mai ebenfalls in Prag aufgestellt, ist sie hinter Weltrekordhalterin Paula Radcliffe und der Deutschen Irina Mikitenko die Nummer drei der ewigen europäischen Bestenliste. Die Aussichten auf Edelmetall für einen europäischen, nationalen Verband beim WM-Marathon waren schon lange nicht mehr so gut wie dieses Mal.
 
 
Bewerb: Marathon der Frauen
Startzeit: Freitag, 27. September um 23:59 Uhr Ortszeit (22:59 Uhr MEZ)
Olympiasiegerin 2016: Jemima Sumgong (Kenia) *
Titelverteidigerin: Rose Chelimo (Bahrain)
Rekord-Weltmeisterinnen: Catherine Ndereba (Kenia) und Edna Kiplagat (Kenia) mit je zwei WM-Titeln
Erfolgreichste Nation: Kenia mit vier WM-Titeln
WM-Rekord: Paula Radcliffe (Großbritannien) in 2:20:57 Stunden (Helsinki 2005)
Weltjahresbestleistung: Ruth Chepngetich (Kenia) in 2:17:08 Stunden (Dubai)
Favoritin: Ruth Chepngetich (Kenia)
Co-Favoritinnen: Ruti Aga (Äthiopien) und Lonah Chemtai-Salpeter (Israel)
 
* aktuell wegen Dopings gesperrt
 
 

Lonah Chemtai-Salpeter beim Florenz Marathon 2018. © SIP / Johannes Langer
 
Kein Wunder also, dass nach jahrelanger ostafrikanischer Dominanz die Hoffnungen auf den ersten europäischen WM-Titel im Marathon der Frauen (Ja, der israelische Verband ist Mitglied im Europäischen Leichtathletik-Verband, Anm.) seit Paula Radcliffe in Helsinki vor 14 Jahren im europäischen Laufsport realistische Voraussetzungen vortreffen. Zumindest die erste Medaille für eine Europäerin seit Valeria Straneo aus Italien vor sechs Jahren ist angesichts der Vorleistungen längst keine Wunschvorstellung mehr, sondern eine realistische. Denn nach Radcliffes Triumph mit der Rumänin Constantina Tomescu zu ihrer Linken am Siegerfoto konnten ansonsten nur mehr Asiatinnen und die US-Amerikanerin Amy Cragg in London 2017 rein afrikanische Marathon-Stockerl bei Weltmeisterschaften verhindern. Dass Chemtai-Salpeter zu einem Quartett mit Bestleistungen unter 2:20 Stunden gehört, skizziert die Qualität des Rennens, die deutlich höher ist, als ursprünglich aufgrund der WM-Vergabe in das Wüstenemirat mit dessen Klimadiagrammen befürchtet wurde. So muss sich der WM-Marathon von Doha keinesfalls vor den anstehenden Marathon Majors im Herbst 2019 verstecken.
 
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Von der Senkrechtstarterin zur WM-Favoritin

Die Favoritin auf die WM-Goldmedaille ist Ruth Chepngetich, eine 25 Jahre alte Kenianerin. Ihr Aufstieg mit einem Streckenrekord beim Istanbul Marathon 2017, den bereits einige starke Halbmarathon-Leistungen Monate zuvor ankündigten, kam kometenhaft. Denn vor dem Wettkampfjahr 2017 war die damals 22-Jährige nicht einmal Insidern bekannt. Beim Paris Marathon 2018 musste sie noch Betsy Saina den Vortritt lassen, bei der erfolgreichen Titelverteidigung beim Istanbul Marathon stieß sie mit einer wundersamen Leistung von 2:18:35 Stunden in die absolute Weltklasse vor. Es folgte die Glanzleistung von Dubai 2019, als sie in einer Zeit von 2:17:08 Stunden den schnellsten Marathon außerhalb von World Marathon Majors aller Zeiten erzielte und den kenianischen Landesrekord von Mary Keitany nur um sieben Sekunden versäumte. Seither liegt Ruth Chepngetich, die im Laufe des Jahres drei ihrer vier Halbmarathons mit teils sehr starken Zeiten gewinnen konnte, auf Rang drei der ewigen Bestenliste. Das Vorbereitungsrennen in der Höhe von Bogotà Ende Juli verlief mit einem Streckenrekord siegreich. Für den WM-Marathon zeigt sie sich optimistisch: „Bis zu diesem Zeitpunkt bin ich mit allem sehr zufrieden. Ich habe keine Probleme, mein Körper hat gut auf das Training reagiert. Wir haben ein starkes Team und ich möchte mich individuell gegen alle anderen Kontrahentinnen durchsetzen, um mein Land stolz zu machen.“
 

Ewig junges Duell Kenia gegen Äthiopien

Schließt man Chemtai-Salpeter als gebürtige Kenianerin mit ein, wird auch bei der WM in Doha der Prestigekampf zwischen Kenia und Äthiopien entscheidend für die Medaillenvergabe sein. Die Geschichte hat aber häufiger gelehrt, dass Meisterschaftsrennen a) aufgrund ihrer Charakteristik tückisch sind und b) aufgrund besonderer Wetterbedingungen unvorhersehbar. Und die Verhältnisse, die den Teilnehmerinnen Freitagnacht trotz der späten Startzeit um eine Minute vor Mitternacht Ortszeit droht, sind alles andere als eine Spezialität der Ostafrikanerinnen. Denn sowohl die kenianische als auch die äthiopische Marathon-Elite ist es gewohnt, bei kühleren, beständigen Verhältnissen in den Höhenlagen ihrer Heimatländer zu trainieren. Dennoch gibt sich das kenianische Team vor der Abreise aus Nairobi selbstbewusst. „Ich habe richtiges Vertrauen in mein Marathon-Team. Eine der drei wird die Goldmedaille gewinnen“, ist sich Marathon-Nationaltrainer Joseph Cheromei sicher. Die gefürchteten Hitze-Bedingungen, die voraussichtlich noch brutaler eintreffen werden als angenommen, lassen das kenianische Team offenbar nicht unruhig schlafen. „Wir haben uns gut vorbereitet und im Training die nötigen Vorkehrungen getroffen, um auf die große Hitze vorbereitet zu sein. Wer hart trainiert, wird bereit sein – egal bei welchen Verhältnissen“, kündigte Routinier Edna Kiplagat an. Cheromei sprach bereits vor Wochen davon, im Training die Bedingungen so gut wie es geht zu simulieren.
 

Ruti Aga beim Berlin Marathon 2018. © SIP / Johannes Langer
 

Kiplagat sehnt sich nach drittem Titel

Größte Herausforderin Chepngetichs ist Ruti Aga, die für Äthiopien den zweiten WM-Titel nach Mare Dibaba (2015) einfahren soll. Die 25-Jährige gewann im Februar den Tokio Marathon und lief beim letztjährigen Berlin Marathon mit einer persönlichen Bestleistung von 2:18:34 Stunden auf Rang zwei ins Ziel. Damit gehört sie zur absoluten Weltklasse genau wie Roza Dereje, als Siegerin des Dubai Marathon 2018 in einer Zeit von 2:19:17 Stunden, Zweitplatzierte des Chicago Marathon 2018 und Drittplatzierte des London Marathon 2019 der zweite heiße Pfeil im äthiopischen Köcher. Bei Aga gibt es allerdings ein offenes Fragezeichen: Sie steht in der Startliste für den New York City Marathon 2019. Bei welchem Rennen will sie nun in Top-Form sein: Doha oder New York?
Nur die dritte Äthiopierin, Shure Demise gehört nicht zum engsten Kreis der Medaillenanwärterinnen. Neben Chepngetich starten die zweifache Weltmeisterin Edna Kiplagat, vor zwei Jahren auf der Tower Bridge im Endspurt Rose Chelimo unterlegen, und Visiline Jepkesho für Kenia. Während Jepkesho krasse Außenseiterin ist, rechnet sich die fast 40-Jährige Weltmeisterin von Daegu und Moskau Chancen auf einen dritten WM-Titel aus. „Ich habe immer noch genügend Energie zur Verfügung und denke längst bis zur WM 2021. Mein Ziel für Doha lautet, die Goldmedaille mit nach Hause zu bringen“, so die 39-Jährige, die von ihrem Ehemann Gilbert Koech trainiert wird, in kenianischen Medien. Ihre Chance sieht sie in der Renncharakteristik: „Ich liebe Weltmeisterschaften, weil keine Tempomacherinnen da sind. Es ist ein offenes Rennen.“
 

Titelverteidigung wäre ein sportliches Wunder

Titelverteidigerin Rose Chelimo führt das Trio aus dem Bahrain an, konnte ihren riesigen Triumph von London aber in keinem nachfolgenden Rennen bestätigen. Europas Hoffnungen auf einen Spitzenplatz liegen nicht alleine auf den Schultern Chemtai-Salpeters. Europameisterin Volga Mazuronak aus Weißrussland hat des öfteren beweisen, bei Meisterschaftsrennen aus sich hinauswachsen zu können. So auch bei den Olympischen Spielen 2016, als sie beachtliche Fünfte war. Ihre Landsfrau Nastassia Ivanova war 2018 in Berlin EM-Fünfte, die Britin Charlotte Purdue glänzte beim diesjährigen London Marathon mit einer Zeit von 2:25:38 Stunden, die Portugiesin Salomé Rocha landete im selben Rennen in einer Zeit von 2:24:47 Stunden zwei Positionen vor Purdue auf Rang acht und die Italienerin Sara Dossena lief eineinhalb Monate zuvor in Nagoya gar eine Zeit von 2:24:00 Stunden. Der Italienische Leichtathletik-Verband (FIDAL) nominierte neben der ehemaligen Triathletin nur noch Giovanna Epis, nachdem die vorgesehene Catherine Berthone ihren WM-Start abgesagt hat. Die 47-Jährige aus der kleinen Region Aostatal, im vergangenen Jahr Achte bei den Europameisterschaften in Berlin, arbeitet hauptberuflich als Pediatristin im Krankenhaus von Aosta. Da sie wegen Unterbesetzung in der Abteilung im Sommer nicht genügend Urlaub nehmen konnte, um sich vernünftig auf einen WM-Start vorbereiten zu können, nimmt sich an der WM nicht teil.
Eine weitere Außenseiterin auf eine Medaille ist „Dauerbrennerin“ Helalia Johannes aus Namibia, die den Nagoya Marathon 2019 in einer Zeit von 2:22:25 Stunden überraschend gewann und sich zuletzt in Bogotà beim Halbmarathon lediglich Chepngetich geschlagen geben musste. Teilnehmerinnen aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz sind nicht am Start. Bei Eva Wutti (SU Tri Styria), die das WM-Limit unterboten hat, hat wie bei vielen anderen der Kampf um das Olympia-Limit eine höhere Prioriät. Die Kärntnerin wird diese Zielsetzung Anfang Dezember beim Valencia Marathon verfolgen.
Die wohl umstrittenste der 69 Doha-Starterin im Marathon der Frauen ist die ehemalige Dopingsünderin Elvan Abeylegesse, die allerdings bisher noch keinen spitzenmäßigen Marathon gelaufen ist. Japan (Ayano Ikemitsu, Madoka Nakano und Mizuki Tanimoto) und die USA (Kelsey Bruce, Carrie Dimoff und die 41-jährige Roberta Groner) schicken aufgrund der kürzlich absolvierten bzw. bevorstehenden Olympia-Trials nicht die stärkste Besetzung nach Doha. Medaillengewinne für diese traditionell starken Nationen sind deshalb im Marathon der Frauen auszuschließen. Für Finnland geht Alisa Vainio ins Rennen, die 2015 für Furore sorgte, als sie als damals 17-jährige in ihrer Heimatstadt Lappeenranta einen Marathonlauf in 2:33:24 Stunden absolvierte, jedoch aus Altersgründen nicht am Olympischen Marathon 2016 in Rio teilnehmen durfte.
 

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Hitze trotz Nachtmarathon

Alle sportlichen Prognosen könnten durch einen wesentlichen Faktor außer Kraft gesetzt werden: das Wetter. Neueste Prognosen versprechen Temperaturen von 34°C zum Startschuss um kurz vor Mitternacht und eine Luftfeuchtigkeit von 80%. Abscheuliche Laufbedingungen, die das Rennen in ein klassisches Meisterschaftsrennen mit gemächlicher Laufgeschwindigkeit verwandeln könnten. Erfahrungen aus der Vergangenheit zeigen, dass Ostafrikanerinnen nicht nur häufig mit übertriebener Hitze schlecht zurecht kommen, sondern auch manchmal die Fähigkeit, ein konservatives Meisterschaftsrennen zu bestreiten, nicht so gut beherrschen wie eine gnadenlose Tempojagd, die bei diesen Bedingungen ein Himmelfahrtskommando darstellen würde. Fakt ist: Wer sich am besten auf die zu erwartenden, schwierigen Bedingungen vorbereitet hat, wird Erfolg haben. Das gilt sowohl für den Kampf um die Medaillen als auch für die hinteren Positionen. Denn die äußeren Bedingungen werden überdurchschnittlich auf das Renngeschehen Einfluss nehmen. Dass die Marathonläuferinnen besonderes Pech haben, ist eine Fehlannahme. Für die nächsten Tage lautet die Wetterprognose durchgehend strahlenden Sonnenschein bei brütender Hitze mit knapp 40°C Lufttemperatur als Tageshöchstwerte. Das Problem: In Doha kühlt es auch nachts nicht unter 30°C ab, für die Marathonnacht werden Tiefsttemperaturen von 32°C (!) erwartet. Die IAAF hat bereits reagiert, die Anzahl der Getränke für die Athletinnen erhöht und medizinische Vorsorgemaßnahmen intensiviert.
Außerdem wirft die späte Startzeit als Auswirkung auf den individuellen Bio-Rhythmus der Läuferinnen offene Fragen auf. Auf Nachfrage vom Olympic Channel glaubt der ehemalige Weltrekordhalter Paul Tergat nicht, dass ein spezielles Training für einen Nachtlauf notwendig ist. „Du kannst zu jeder Zeit und bei jeden Bedingungen laufen!“ Der Kenianer sieht den Vorteil, dass der Wind in den Nachtstunden keine Rolle spielt – der Marathonkurs führt ja entlang der Küste. Patrick Sang, Trainer von Eliud Kipchoge, rät den Athleten, in den Tagen der Vorbereitung einen längeren Mittagsschlaf einzuzüben, um die hohe Aufmerksamkeit des Körpers zu später Stunde abrufen zu können. Da sich Doha in derselben Zeitzone wie Kenia befindet, seien sonstige biochronologische Anpassungen nicht notwendig. Auch die erfahrene Edna Kiplagat macht sich laut des Berichts des Olympic Channels keine Sorgen aufgrund des Nachtlaufs: „Für jedes Rennen sind mentale Schematas wichtig. Dieses Mal lautet eines, auf das Laufen in der Nacht vorbereitet zu sein.“
Der Marathon wird auf einer optisch ansprechenden, sechsmal zu absolvierenden, sieben Kilometer langen Runde entlang der Hafenpromenade der katarischen Hautpstadt ausgetragen. Ex-Weltmeisterin Paula Radcliffe freut sich sehr darauf: „Es ist aufregend und einzigartig. Der Start um Mitternacht bietet den Athletinnen die besten Bedingungen vor Ort. Die Bilder werden die ikonische Skyline von Doha zelebrieren. Es wird eine beeindruckende Kulisse, vor der hoffentlich tolle Leistungen abgeliefert werden.“
 
 
WM-Zeitplan
Leichtathletik-Weltverband
Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2019 in Doha

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