Im Rhythmus des Lebens
Die innere Uhr, bestehend aus unzähligen biologischen Rhythmen,
beeinflussen unser Leben maßgeblich. Chronobiologe Dr. Maximilian Moser unterstreicht im RunUp-Interview ihre Bedeutung für ein optimales Funktionieren
des Organismus und analysiert die positive Wechselwirkung zwischen gutem Schlaf und regelmäßiger sportlicher Aktivität.
Dieses Interview wurde in der Frühlingsausgabe 2018 des Laufmagazin RunUp veröffentlicht. Die Frühjahrsausgabe mit dem Titel „Warum wir laufen“ erhalten Sie nächste Woche brandaktuell bei Ihrem Kiosk. Weitere Artikel aus der Frühjahrsausgabe können Sie vollständig im RunUp-Archiv einsehen.
RunUp: Die Chronobiologie erforscht die innere Uhr von Lebewesen. Wie und in welchem Ausmaß diktiert die innere Uhr das menschliche Leben?
Dr. Maximilian Moser: „Ich würde nicht sagen, dass die innere Uhr das menschliche Leben diktiert. Sie beeinflusst es sehr stark. Unzählige Rhythmen existieren in unserem Körper. Es gibt nicht nur den Tagesrhythmus, auf den die Chronobiologie sich hauptsächlich fokussiert, sondern auch Jahres- und Wochenrhythmen und schnelle Rhythmen wie der Herzschlag.
Alle Rhythmen bilden einen menschlichen Zeitorganismus, der genauso wirksam auf unseren Körper ist wie der räumliche.“
Kann der Mensch seine innere Uhr übergehen?
„Das tut er heute ohnehin bis zu einem gewissen Grad ununterbrochen. Er stellt plötzlich auf Sommerzeit um. Er geht abends nicht schlafen, obwohl die Sonne längst untergegangen ist und es stockdunkel ist. Er betreibt Nacht- oder Schichtarbeit, überspringt Zeitzonen und erfährt einen Jetlag. Heute gibt es ein Bewusstsein dafür, was passiert, wenn diese innere Uhr übergangen wird und daher hat die Chronobiologie an wissenschaftlicher Bedeutung gewonnen.“
Was passiert?
„Wenn sich Rhythmusstörungen permanent und über einen längeren Zeitraum wiederholen, kann das zu schweren Erkrankungen führen. Die Wissenschaft hat einen Anstieg von Herzinfakt-Inzidenz und ein um 50% höheres Risiko an Brust- und Prostatakrebserkrankungen bei Schichtarbeitern festgestellt.“
Viele Menschen müssen in ihrem Job viel Reisen und erleben ständig einen Jetlag. Was können sie aktiv unternehmen, um diese Rhythmusstörungen zu besänftigen?
„Mit einzigen geschickten Maßnahmen kann Vieles vermieden werden. Die Umstellung auf die Zielzeit soll bei einem Aufenthalt von zwei Wochen oder länger so frühzeitig wie möglich erfolgen. Allerspätestens bei der Abreise am Flughafen soll man auf die Zielzeit eingestellt sein. Das ist im Falle von Kurzaufenthalten natürlich nicht sinnvoll. Daher reisen heutzutage Fluglinien-Mitarbeiter gleich wieder zurück, um sich eine Rhythmusumstellung zu ersparen.“
Wie kommt der Mensch zu seiner inneren Uhr? Oder wird sie von den Rahmenbedingungen ersten Lebensphase geformt?
„Von niedrigen Säugetieren wie Mäusen weiß man, dass die genetische Komponente deutlich stärker zu tragen kommt. Beim Menschen ist sie kulturell überformt und Kinder lernen im Laufe des Lebens enorm von den Gewohnheiten der Eltern. Untersuchungen bei Kleinkindern, deren Schlaf- und Wachphasen sowie Essenszeiten rund um die Uhr beobachtet wurden, haben gezeigt, dass ein Kind etwa 16 Wochen benötigt, bis es den Tagesrhythmus übernommen hat. Der Tagesrhythmus ist nicht der einzige Rhythmus, aber ein sehr wichtiger. Und offensichtlich ist zusätzlich zur genetischen Prädisposition eine starke Bereitschaft des Organismus da, ihn zu erlernen. Eltern können sich ihr Leben wesentlich erleichtern, wenn sie ihr Kind möglichst rasch in einen Tagesrhythmus bringen. Bei zu früh geborenen Kindern, die allgemein empfindlicher sind, hat man festgestellt, dass dieses schnelle Annehmen eines Tagesrhythmus besonders positive Auswirkungen auf die Gesundheit hat.“
Die innere Uhr tickt bei jungen Erwachsenen anders als bei Kindern und älteren Menschen …
„Studien haben gezeigt, dass junge und ältere Menschen über fünfzig Ähnlichkeiten aufweisen. Sie werden als Morgenmenschen bezeichnet. Dagegen sind Menschen mittleren Alters, angefangen im Studentenalter, eher Abendmenschen. Dabei wurden die Probanden unabhängig von äußeren Reizen – also in den Ferien oder im Urlaub, wo sie über den Zeitpunkt des Schlafengehens frei entscheiden konnten, ohne den Druck des Aufstehen-müssens – befragt und die individuelle Mitte der Nacht ermittelt. Die Unterschiede waren beachtlich, bis zu drei Stunden.“
In Ihrer neuesten Publikation „Vom richtigen Umgang mit der Zeit“ sprechen Sie von Billionen inneren Uhren in unserem Körper. Ticken diese Uhren alle im gleichen Rhythmus und ziehen an einem Strang oder verfolgen sie zahlreiche unterschiedliche Ziele?
„Man hat in der Chronobiologie eine Zeit lang geglaubt, es gibt eine Masterclock im Gehirn, von der alle anderen inneren Uhren diktiert werden. Das hat sich als nicht richtig herausgestellt. In Wirklichkeit ist es ein organisiertes, gemeinschaftliches Verhalten dieser Uhren. Jede Zelle hat die Fähigkeit innere Uhren zu erzeugen. Menschliche Zellen kommunizieren miteinander. Sie sind im Verhalten synchronisiert, sie stimmen sich mit den Nachbaruhren der anderen Zellen ab. Je besser diese Abstimmung, desto gesünder ist ein Mensch. Schlecht abgestimmte Zellen und eine verstummende Rhythmik sind Zeichen von Krankheit und Alterung. Schafft ein Mensch, seine Rhythmen möglichst jung zu halten, bleibt er länger gesund und jugendlich.“
Der Schlaf ist eine zentrale Aktivität in unserem täglichen Rhythmus. Was macht der Schlaf mit unserem Körper, dass unsere innere Uhr ihm fast ein Drittel unserer Lebenszeit widmet?
„Der Schlaf erfüllt eine Fülle von wichtigen Funktionen für das Leben, ist die große Regenerationsquelle im Organismus und unterscheidet uns von einer Maschine. Wenn Sie Ihr Auto in die Garage stellen und dort lange stehen lassen, wird es rosten, bis es ein Wrack ist. Beim menschlichen Organismus und bei lebenden Wesen ist es genau umgekehrt. Wenn Sie schlafen gehen, verjüngt sich der Organismus. Vergleichen Sie einen übernachtigen Menschen mit einem frisch ausgeschlafenen: Sie erkennen die Merkmale! Leider ist die Regeneration nicht ganz so groß wie die Alterung, weswegen wir älter werden. Hätten wir diese Regeneration nicht, würden wir viel viel schneller altern.“
Wie der Körper diese Selbst-Regeneration macht, haben wir in den letzten Jahren immer besser erforscht. Feinste Kanäle im glymphatischen System im Gehirn, welches dem lymphathischen System im restlichen Körper entspricht, werden nur im Schlaf geöffnet. Giftstoffe und Stoffwechselendprodukte werden ausgeschwemmt, das Gehirn durchgewaschen und dadurch wieder leistungsfähig. Das Gehirn ist am Morgen wesentlich leistungsfähiger als am Abend. Bekommen Sie am Abend eine E-Mail mit ärgerlichem Inhalt, antworten Sie nicht direkt. Schlafen Sie eine Nacht darüber, am Morgen ermöglicht ihnen ein frisches Gehirn die richtige Reaktion.
Eine zweite wichtige Funktion des Schlafes erfüllen die Traumphasen, die sich mit den Tiefschlafphasen abwechseln. Träume sind eine andere Form, erlebte Tagesinhalte anhand von Erinnerungen einzuordnen und Lerneffekte zu erzielen.“
Ist im heutigen Kontext die Gefahr größer, dass der Mensch aktiv den Rhythmus des Hormons Melatonin verändert oder durcheinanderbringt?
„Die Beschleunigung der heutigen Zeit spielt sicherlich eine große Rolle. Denn sie ignoriert den vorhandenen Rhythmus und gibt ein Tempo vor, das wir nicht in der Lage sind, zu bearbeiten. Die Folge permanenten Zeitdrucks ist Stress. Besonders schlimm sind die technischen Möglichkeiten, die biologischen Rhythmen zu stören. Der Tagesrhythmus wird mit Zeitgebern äußerer Rhythmen synchronisiert. Der wichtigste Zeitgeber für den menschlichen Organismus ist Licht.
Vor 60 Jahren hat man herausgefunden, dass es im Auge auf der anderen Seite der Netzhaut so genannte zirkadiane Sehzellen gibt, die nicht bildgebend, sondern nur lichtwahrnehmend sind. Sie haben eine Lichtempfindlichkeit im blau-grünen Bereich, orientieren sich also am vom Himmel gegebenen Tageslicht. Im Gegensatz zu Rotfärbung, die für die Dämmerung und in vergangenen Zeiten das Lagerfeuer am Abend vor dem Schlaf steht. Heute schalten wir nach dem Sonnenuntergang den Monitor ein und uns strahlt blau-grünes Licht entgegen, was zu einer Verwirrung im Organismus führt. Smartphone-Hersteller haben bereits mit dem Night-Shift-Mode reagiert, aber das reicht bei weitem noch nicht. Es braucht tiefer gehende Maßnahmen, um die von Fernsehern, Computern und anderen technischen Geräten verursachten Rhythmusstörungen zukünftig zu verhindern.“
Wenn Menschen regelmäßig Sport treiben, dann kreieren sie einen Rhythmus. Welche Auswirkungen hat er auf die Chronobiologie des Körpers?
„Wie erwähnt, alle Rhythmen in einem Organismus sind aufeinander abgestimmt. Der basale Ruhe- und Aktivitätszyklus ist ein Rhythmus, der etwa zwei Stunden dauert und vor allem in den Traumphasen gut beobachtbar ist. Es wäre ideal, wenn man seine sportlichen Aktivitäten genau einteilt, dass man diesen Zyklus optimal nutzt. Es ist wichtig, dass man zur richtigen Zeit Sport treibt. Wenn das gelingt, schlafen die Menschen nachts auch besser.“
Wie lässt sich der optimale Zeitpunkt
finden?
„Man kann ihn durch ein Aufmerksamkeitstagebuch ermitteln und zwischen Phasen der hohen und weniger hohen Aufmerksamkeit ermitteln. Bei hoher Aufmerksamkeit ist eine Laufrunde empfehlenswert, nach maximal eineinhalb Stunden sollte man aber eine Pause einlegen. Denn jetzt kommt die Phase mit geringerer Aufmerksamkeit. Dasselbe gilt auch für kürzere Rhythmen, zum Beispiel für das optimale Timing eines Intervalltrainings.
Generell ist ein Abendlauf nicht empfehlenswert. Da haben wir sehr schlechte Erfahrungen gemacht, was die Schlafqualität betrifft. Dagegen empfehle ich einen Morgenlauf. Da kann man eine höhere Leistungsfähigkeit abrufen.“
Viele Läufer sind, häufig durch ihr Zeitmanagement bedingt, abends auf der
Laufstrecke …
„Bei einem lockeren Lauf ist das sicherlich tolerierbar. Aber, wie gesagt: Wir haben wirklich schlechte Erfahrungen mit gut trainierten Sportlern gemacht, die mit ihrem abendlichen Training den Schlaf gestört haben.“
Was kann man über den umgekehrten Einfluss des guten Schlafs auf die sportliche Leistungsfähigkeit sagen?
„Die Reaktionsfähigkeit ist durch einen guten Schlaf massiv verbessert. Die stärkste Auswirkung des Schlafs auf das zentrale Nervensystem äußert sich durch Vigilanz, Aufmerksamkeit, Koordination. Denken Sie an die Langläuferin Teresa Stadlober, die bei den Olympischen Spielen falsch abgebogen ist. Meine einzige Erklärung für einen derartigen Fehler ist geringe Aufmerksamkeit. Die körperlichen Voraussetzungen waren optimal für einen großen sportlichen Erfolg, nur das zentrale Nervensystem hat nicht mitgespielt und sie war nicht wach. Die Chronobiologie wird bei uns im Spitzensport noch viel zu wenig beachtet!
Auch in der allgemeinen Unfallprävention wird der menschlichen Unaufmerksamkeit zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Nicht von ungefähr können zahlreiche Unfälle und Katastrophen auf menschliches Versagen zurückgeführt werden, besonders in den Nachtstunden. Ein Beispiel: Wir haben in einem Projekt bei Bauarbeitern eine Rhythmustherapie durchgeführt. Auf den 85 teilnehmenden Baustellen gab es eine Unfall-Reduktion von 30%. Ein vigilanter Mensch kann auch mit gefährlichsten Situationen umgehen.“
Gibt es Situationen im Leben, wo die Wechselwirkung zwischen Schlaf und sportlicher Aktivität ein Hindernis darstellen kann?
„Dazu ist mir nichts bekannt. Wenn der Schlaf gut ist, ist die sportliche Leistungsfähigkeit mit Sicherheit besser. Und umgekehrt auch.“
Ao Univ. Prof. Dr. Maximilan
Moser ist Institutionsleiter am Institut für Gesundheitstechnologie und Präventionsforschung mit Schwerpunkt auf Chronobiologie, Schlafforschung, Stress- und Erholungsforschung und vegetative Regeneration in Weiz in der Steiermark. Er überzeugte mit einer Vielzahl an wissenschaftlichen Publikationen und als Professor an den Universitäten in Graz und Klagenfurt.