Spurtfähigkeit im Finale

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Es gibt zwei Hauptvarianten, um im Wettkampfsport erfolgreich zu sein. Man versucht, die Distanz von A (= Start) bis B (= Ziel) so schnell wie möglich zu absolvieren und lässt sich dabei idealerweise von einem Pacemaker unterstützen. Das gilt im Spitzensport, wo bei den großen internationalen Meetings fast ausnahmslos Tempomacher eingesetzt werden, um attraktive Wunsch-Siegerzeiten zu erlangen, aber auch im Freizeitsport, wenn sich Läufer an Pacemakern orientieren, die ihre gewünschte, individuelle Zielzeit anvisieren. Variante zwei orientiert sich nicht an der Zeit, sondern an der Platzierung. Besonders bei Meisterschaftsrennen ist es offensichtlich, dass die meisten Wettkämpfe auf den letzten ein bis zwei Stadionrunden entschieden werden. Je kürzer die Laufdistanz, desto häufiger erst auf den letzten 200 oder 100 Meter.
Schlussspurt bei Meisterschaften entscheidend
Auch bei den kommenden Europameisterschaften in Berlin werden viele Rennen erst in den Schlussphasen entschieden werden. Wer die schnellste Schlussrunde hat, hat beste Chancen, mit Gold dekoriert werden. Diese Charakteristik fördert Überraschungen. So gewann Matthew Centrowitz in Rio de Janeiro 2016 die Olympia-Goldmedaille im 1.500m-Lauf in einer aufreizend langsamen Siegerzeit von 3:50,00 Minuten. Der US-Amerikaner ist ein Meister der Schlussrunde, bei internationalen Top-Meetings mit Tempomachern hat er üblicherweise vor seinem Schlussspurt schon so großen Rückstand, dass er nicht mehr um den Sieg mitkämpfen kann. Auch in der Karriere von Mo Farah waren dessen phänomenale Fähigkeiten auf der letzten Runde eine enorm wichtige Komponente für seine beispiellose Erfolgsserie bei globalen Meisterschaften auf den langen Strecken. Nicht selten hatten in Vergangenheit die besten Läufer auch die besten Schlussrunden – so wie die äthiopischen Topstars Haile Gebrselassie, Kenenisa Bekele oder Tirunesh Dibaba.
Gezieltes Training
Ein starker Schlussspurt ist natürlich eine Fähigkeit, die eine Mischung aus Gabe und harter Arbeit im Training ist. Verstärkte Kräftigungsübungen, Intervalltraining und Laufen im leichten Anstieg sind ebenfalls dienliche Trainingsübungen wie Sprung- und Beugübungen. Denn es ist nicht so leicht, im letzten Teilstück eines Rennens plötzlich die Schrittfrequenz, Tempo zu erhöhen, die Schrittlänge anzupassen und die Abstoßkraft vom Boden zu steigern. Immer wieder haben auch die größten Stars Probleme, ein gutes Finish hinzulegen, wenn sie davor – in Meisterschaftsrennen nicht untypisch – nicht 100% ihres gewohnten Tempos abrufen können, weil sich Rennen langsamer entwickeln als bei vielen Meetings. Die Kunst ist, am Ende dieser Phase und am Beginn der Jagd um die besten Plätze in der Rennschlussphase, den Schalter umzulegen.
Neben mentaler Stärke und dem Willen, über die eigenen Grenzen hinauszugehen, sind eine kräftige Muskulatur und bewegliche Gelenke das Erfolgsgeheimnis. Natürlich in Harmonie mit der Grundlagenausdauer und der Lauftechnik, auf die ein guter Schlussspurt aufgebaut werden kann.
Gutes Gefühl zu Rennende
Auch im Freizeitbereich ist ein flinkes Finish eine willkommene Zutat zu einem erfolgreichen Rennerlebnis. Gerade auf längeren Strecken wie Halbmarathon und Marathon ist dies jedoch weniger wichtig, weil der Kampf um die Positionen in der breiten Masse auf den letzten Metern abgesehen von der individuellen Motivation nicht so relevant ist wie bei Spitzenpositionen. Dennoch wird in der Nachbetrachtung eine positive Erinnerung generiert, wenn die letzten Kilometer eines Wettkampfs nicht von Erschöpfung und Kampf, sondern von einer leichten Temposteigerung und einem damit verbundenen, sehr guten Gefühl geprägt sind. Natürlich ist eine gute mentale und physische Vorbereitung das A und O, um in der Schlussphase zulegen zu können, ohne auf den Abschnitten davor trödeln zu müssen, um Kräfte sparen zu können.
Verletzungsgefahr
Das Schöne: Die Trainingsübungen, die gezielt auf einen Endspurt trainieren, verbessern in der Regel auch die allgemeine Leistungsfähigkeit, da da Herz-Kreislauf-System gefordert wird. Nicht empfehlenswert ist es im Hobbybereich, nach einem langen Wettkampf auf der Zielgerade einen veritablen Schlussspurt aus der Übermotivation heraus einzulegen. Genauso sinnlos ist es, eine Laufeinheit mit einem energischen Schlussspurt zu beenden. Die Verletzungsgefahr in der bereits sehr beanspruchten Muskulatur ist groß, der Trainingsreiz inexistent.
Spitzensportler schenken diesem Element einen großen Teil ihres Trainingsplans, um zum Zeitpunkt X den bestmöglichen Schlussspurt in die Waagschale werfen zu können. Denn er wird auch bei der EM in Berlin häufig den Unterschied zwischen Medaillenjubel und Enttäuschung oder Finalteilnahme und Vorrundenaus machen.