Keine Frage: Ein Sieg beim Chicago Marathon ist eine Besonderheit. Der Eintrag in die Siegerliste eines der prestigeträchtigsten und traditionsreichsten Marathonläufe der Welt. Dem zweitgrößten hinter den New York City Marathon, nach Teilnehmern gereiht.
Doch dieser Erfolg von Galen Rupp in diesem Jahr hat eine außergewöhnliche Strahlkraft! Denn er lässt Wasser auf die müden Mühlen einer eingerosteten Diskussion tropfen: die realisierbare Chance, gegen die drastische Überlegenheit afrikanischer Marathonläufer zu bestehen. In der Tat ist Galen Rupps Erfolg beim Chicago Marathon der erste eines nicht in Afrika geborenen Läufers bei World Marathon Majors (der Tokio Marathon gehört erst seit 2013 dazu, Anm.) seit Marilson dos Santos beim New York City Marathon 2008. Im Umkehrschluss klingt es noch dramatischer: Neun Jahre lang haben nur Afrikaner und Meb Keflizighi (ein US-Amerikaner mit eritreischen Wurzeln) bei den großen Marathons der Welt abgeräumt!
Ur-amerikanisch
Manchmal hat man fast den Eindruck, als würden nicht-afrikanische Läufer vor Ehrfurcht erstarren und sich in Chancenlosigkeit herausreden. Zwar hat Galen Rupp (noch) nicht annähernd bewiesen, die Weltklassezeiten der Kenianer und Äthiopier mitgehen zu können. Dennoch ist sein Triumph im taktisch geprägten Rennen von Chicago ein strahlendes Symbol der Hoffnung. Made in USA, denn Galen Rupp ist aufgewachsen in Portland im nordwestlichen US-Bundesstaat Oregon und lebt immer noch dort. Sein Trainingsumfeld ist durch das Nike Oregon Project hochprofessionell. Aber ohne die hochgelobte ostafrikanische Höhenlage.
Lange Durststrecke
RunAustria hat die Siegerlisten der zehn bedeutendsten Marathon-Veranstaltungen der Welt in einer subjektiven Auswahl (die sechs World Marathon Majors New York City Marathon, Chicago Marathon, Boston Marathon, London Marathon, Berlin Marathon und Tokio Marathon sowie der Paris Marathon, der Dubai Marathon, der Frankfurt Marathon und der Amsterdam Marathon) plus die globalen Olympia- und WM-Entscheidungen im Zeitraum der letzten 15 Jahre analysiert. Die Einteilung der 154 Siegerinnen und Sieger (die Marathons in New York, Frankfurt und Amsterdam 2017 wurden nicht berücksichtigt, weil sie erst stattfinden; der New York City Marathon 2012 musste wetterbedingt abgesagt werden; der Tokio Marathon feierte seine Premiere erst 2007, Anm.) skizziert die Überlegenheit ostafrikanischer Marathonläufer insbesondere bei den Herren deutlich.
Sieger und ihre Nationalität bei großen Marathons (2003–2017):
1. Kenia – 101 Siege
2. Äthiopien – 37 Siege
3. USA – 3 Siege (*)
4. Eritrea, Uganda, Marokko und Brasilien – je 2 Siege
5. Japan, Südafrika, Schweiz, Italien und Katar – je 1 Sieg (**)
Siegerinnen und ihre Nationalität bei großen Marathons (2003–2017):
1. Äthiopien – 58 Siege
2. Kenia – 53 Siege
3. Russland – 11 Siege
4. Deutschland – 8 Siege
5. Japan – 7 Siege
6. Großbritannien – 6 Siege
7. USA, Rumänien, China und Lettland – je 2 Siege
8. Bahrain, Portugal und Slowenien – je 1 Sieg ***
* davon zwei durch Meb Keflezighi, einem Amerikaner mit eritreischen Wurzeln
** der katarische Sieger des Paris Marathon 2007, Mubarak Hassan Shami stammt aus Kenia
*** die bahrainische Weltmeisterin von 2017, Rose Chelimo stammt aus Kenia
Gründe für den Unterschied zwischen den Geschlechtern
In dieser Auflistung wird klar deutlich, dass die Überlegenheit der beiden großen ostafrikanischen Laufhochburgen Kenia und Äthiopien bei den Herren mit 138/154 Siegen deutlicher ist als bei den Damen mit 111/154 Siegen. Das betrifft allerdings nicht die jüngsten Jahre! Es handelt sich hier schlichtweg um eine verzögert eingesetzte Entwicklung, die mehrere Gründe hat. Einerseits haben die afrikanischen Nationen erst (zu) spät das Potenzial im Laufsport der Damen entdeckt und erst langsam die Fesseln des Sexismus, der Ungleichberechtigung und des fehlenden gesellschaftlichen Ansehens der Frau gelöst. Andererseits mussten sich die besten afrikanischen Marathonläuferinnen erst gegen die Garde der starken Japanerinnen in der ersten Hälfte des ersten Jahrzehnts im 21. Jahrhunderts durchsetzen und die Ära der besten Marathonläuferin aller Zeiten, der Britin Paula Radcliffe abwarten. Außerdem spielten die russischen Marathonläuferinnen, wie man heute weiß vielleicht nicht immer mit dem saubersten Hintergrund, bei den Damen eine große Rolle. Die letzte nicht in Afrika geborene Siegerin eines großen Marathons ist nach der Disqualifikation der gedopten Liliya Shobukhova die Deutsche Irina Mikitenko, die vor acht Jahren den London Marathon und den Chicago Marathon gewann. Negativ formuliert könnte man auch sagen, die Verdrossenheit einer Chancenlosigkeit gegen die Afrikanerinnen hat im Marathonlauf der Damen erst später eingesetzt – die bei den Herren nun beendete Durststrecke ist bei den Damen ähnlich lange…
Rupps Erfolgswaffe: Pfeilschnelle Abschnitte im Entscheidungsphase
Den Beweis, den Galen Rupp beim Chicago Marathon angetreten hat, ist, dass er in Teilstücken mit der Weltelite mithalten konnte. Auf dem Fundament eines Laufs mit rekordferner Tempogestaltung auf den ersten beiden Dritteln der Renndistanz gelangen dem 31-Jährigen pfeilschnelle Abschnitte in der entscheidenden Phase, mit denen er die namhafte Konkurrenz aus Ostafrika besiegte. Damit knüpfte Galen Rupp etwa an einem seiner Vorgänger als nicht-afrikanischer Sieger eines großen Rennens an. Der Italiener Stefano Baldini gewann mit einer vergleichbaren Strategie und eines noch hochwertigeren Finishs die Olympische Goldmedaille in Athen 2004. Seither sind 13 Jahre vergangen und nur ein weiterer Europäer konnte einen großen Marathon gewinnen: der Schweizer Viktor Röthlin 2008 beim damals noch jungen Tokio Marathon. Die weiteren Siege von Marathonläufern, die nicht aus Afrika stammen: der Brasilianer Marilson dos Santos (2006 und 2008 in New York) sowie Masakazu Fujiwara aus Japan (Tokio Marathon 2010).
Der Schönheitsfehler im gedanklichen Hintergrund
Ist der Erfolg Galen Rupp also nur ein Strohfeuer? Ein Fähnchen im Wind, das einem geringen Luftzug nicht standhalten kann? Oder können europäische, amerikanische, asiatische und australische Marathonläuferinnen und Marathonläufer zukünftig häufiger die große Bühne betreten? Einzelne Talente sind in mehreren Ländern unübersehbar, die konkretesten Hoffnungen kommen tatsächlich aus den USA mit Galen Rupp und Jordan Hasay, die heuer jeweils zweimal glänzen konnten (Boston und Chicago). Das Ärgerliche dabei: Beide trainieren seit Jahren im Nike Oregon Project unter Alberto Salazar und stehen seit Jahren gemeinsam mit ihrem prominenten Coach unter Beobachtung. Wiederholte Anschuldigungen wegen vermuteter Doping-Praktiken brachten nicht nur tief gehende Diskussionen, sondern auch Ermittlungen der US-amerikanischen Anti-Doping-Agentur (USADA) in Gang. Bisher ohne Resultate, wodurch der Schönheitsfehler an den Erfolgen der Trainingsgruppe aus Oregon im Moment nur als gedankliche Begleiterscheinung im Rahmen einer umfassenden Chronistenpflicht auftritt.
Europa hat einen langen Weg vor sich
Was bedeutet der Erfolg Galen Rupps für die europäische Marathonszene? Vorerst wenig, außer die willkommene Gelegenheit einer Inspiration. Der Glaube, auch im Marathon auf größter Bühne erfolgreich sein zu können, ist hoffentlich ohnehin vorhanden, denn Resignation ist der schlechtest denkbare Ratgeber. Mit entsprechenden Ausnahmetalenten, optimalem und kompetentem Umfeld, richtiger Einstellung und ideale Rahmenbedingungen schaffenden Verbänden sind europäische Erfolge im Marathon zukünftig nicht ausgeschlossen. In absehbarer Zeit wird Viktor Rothlins Sieg beim Tokio Marathon 2008 (damals noch nicht als World Marathon Major) wohl keinen Nachfolger erhalten, wenn man bedenkt, dass die schnellsten Europäer der letzten Jahre (Tadesse Abraham, Kaan Kigen Özbilen und zukünftig vielleicht auch Mo Farah) afrikanische Gene in sich tragen. Das knappe Verpassen einer Medaille durch den Briten Callum Hawkins bei den Weltmeisterschaften in London könnte auch auf dem alten Kontinenten als kleiner Hoffnungsschimmer gesehen werden – made in Great Britain.