Nun also doch: Der Deutsche Olympische Sportbund hat sich nach längeren Diskussionen mit dem Deutschen Leichtathletikverband zur absoluten Kehrtwende entschieden: Die Olympia-Normen in zahlreichen Disziplinen der Leichtathletik, allen voran im Marathonlauf, wurden deutlich gesenkt. Ein überraschendes Entgegenkommen an die Sportler in beinahe sensationellem Ausmaß! Im Marathon beträgt der Unterschied 1:45 Minuten bei den Herren und zwei Minuten bei den Damen. Jeder Profi- wie Freizeitsportler auf hohem Niveau weiß, was zwei Minuten mehr oder weniger auf der Stoppuhr auch nach 42,195 Kilometer bedeuten.

Mit einer Elite zum Erfolg – der deutsche Weg

Um die Bedeutung des Entschlusses zu verstehen, muss man die Herangehensweise des deutschen Sports analysieren. Deutschland war immer bemüht, nur die Creme de la Creme des nationalen Sports auf die große internationale Bühne zu versenden. Eine ausgewählte Elite, die mit Sieges- und Medaillenambitionen oder schlimmstenfalls aussichtsreichen Chancen auf eine Teilnahme am Finalwettkampf anreist, soll das patriotische Sportlerherz in der Heimat zum Aufgehen bringen. Das war früher nicht anders als heute und die verantwortlichen deutschen Sportfunktionäre haben unabhängig der Sportart auch nie einen Hehl draus gemacht, diese Haltung öffentlich zu kommunizieren und zu rechtfertigen. Wenn man also nicht auf ein wie in den USA typisches Trial-System zurückgreifen möchte, sind erschwerte Richtlinien bei den Normen der plausible Weg – ein Sieb, bei dem nur die stärksten nicht durchfallen. Dass dabei schwächer besetzte Sportarten und Disziplinen ausgehungert werden, nimmt man im Sinne des Erfolgs in Summe gerne in Kauf – schließlich sind es die Statistiken, die den Gesamteindruck formen, der in Erinnerung bleibt.

Europäische Spitze hinter Russland

Mit dieser Taktik blickt der Deutsche Leichtathletikverband auf große Erfolge bei internationalen Großereignissen zurück, die sicherlich im alten Jahrhundert noch herausragender waren als in den letzten Jahren, wo manch einer der erfolgsverwöhnten Medienvertreter sogar Krisenzeiten herbeigeredet hat. Bei den drei Weltmeisterschaften zwischen 2009 und 2013 belegte der DLV im Medaillenspiegel die Ränge sechs, fünf und fünf – überflügelt nur von der Leichtathletik-Großmacht USA, den – wie wir heute mit Belegen wissen – flächendeckend gedopten Russen, dem Sprinter-Wunderland Jamaika und der Läuferhochburg Kenia. Bei den Spielen von London musste man auch noch das zweite Läuferland Äthiopien und die überraschend starken Lokalmatadoren aus dem Vereinten Königreich vorbeiziehen lassen, bei der WM in Peking die in wenigen Disziplinen überragenden Polen. Wenn man den Tiefpunkt der Olympischen Spiele von Peking ausgliedert, Konstanz auf hohem Niveau.

Signale einer Maßnahme

Warum man diese bewährte Herangehensweise ausgerechnet jetzt ändert, ist von außen betrachtet schwierig zu beurteilen. Der Druck, den Deutschlands größte Marathon-Veranstaltungen ausgeübt haben, war sicherlich ein Faktor. Die Angst davor, Disziplinen in Teilbereichen der Leichtathletik flächendeckend nicht besetzten zu können, was für die mediale Berichterstattung über die Leichtathletik in einem derartig bedeutenden Sportland eine Katastrophe wäre, möglicherweise auch. Offiziell ließen die Funktionäre verlautbaren, war aufgrund der nun bekannten, Doping verseuchten, jüngeren Vergangenheit ein neuer Maßstab für faire Normen notwendig. „Der IAAF-Skandal war sicherlich eine Steilvorlage“, erkannte auch Marathonläufer Philipp Pflieger. Doch welche Aussage will man wirklich damit treffen? Wären der Korruptionsskandal um die IAAF und der Dopingskandal im russischen Sport nicht ans Licht gekommen, wäre die Diskussion um Norm-Erleichterungen hinfällig? Waren in Zeiten, in denen – wie jetzt alle wissen – flächendeckend gedopt und betrogen wurde, strengere Normen von Nöten und hat man deswegen saubere und nicht ganz an die Weltklasse herankommende Athleten „geopfert“, in denen man ihnen sportliche Lebensträume durch besondere Klauseln, die es in andern Ländern nicht gibt, verwehrt hat? Und jetzt, wo weltweit vielleicht (der Sportfan hofft) mit Doping etwas vorsichtiger umgegangen wird, ist diese Notwendigkeit abhanden gekommen? Musste man sich in den vergangenen Zeiten auf eine kleine Elite konzentrieren, um international mithalten zu können, während man es sich heuer leisten kann, einer größeren Breite die Aufmerksamkeit zu schenken?
In äußerst sensiblen Zeiten in der Leichtathletik wie diesen sollte man alles hinterfragen: Was bedeutet das für die eigene Vorbereitungsstrategie der Athleten? Eine gelockerte Norm erfordert keinen zweiten Saisonhöhepunkt zur Teilnahmevoraussetzung am eigentlichen. Gelockerte Normen machen die Teilnahme an internationalen Wettkämpfen und Meetings zur Erlangung dieser nicht mehr so dringend notwendig, ein sich von der Bildfläche zurückziehen wird erleichtert – die „russische“ Strategie der letzten Jahre. Oder führt der gelinderte Druck zu einem unbeschwerteren Weg in Richtung Saisonhöhepunkt? Will man in diese Maßnahme selbst eine verschleierte Botschaft zum Thema Doping verpacken? Der Interpretationsspielraum ist geöffnet!

Welcher Eindruck bleibt?

Eine mitentscheidende Frage wird nach den Olympischen Spielen 2016 zu beantworten sein, welche letztendliche Strahlkraft diese Maßnahme der Kehrtwende zukunftsweisend hat. Man stelle sich vor, Deutschland, das jetzt vermutlich mit sechs Teilnehmern an den Marathon-Läufen in Rio am Start sein wird, erzielt lediglich Platzierungen im fortgeschrittenen zweistelligen Positionsbereich – düpiert nicht nur von Afrikanern, sondern auch von europäischen Mitstreitern. Wie wird die Öffentlichkeit reagieren? Wie werden die Verantwortlichen reagieren? Nach dem Motto „das haben wir nun von den gelockerten Normen“ oder werden auch diese möglicherweise immer noch bemerkenswerten Leistungen honoriert? In einem Land, das von einer sportlichen Elite erfolgsverwöhnt ist, ist ersteres zumindest nicht auszuschließen. Tritt das Gegenteil ein und Deutschland holt in Disziplinen, in denen man seit Jahren nichts gerissen hat, Medaillen, wird die Frage zu stellen sein: Warum ist das so? Und warum hat man in der Vergangenheit durch schwierige Normen solche Überraschungserfolge a priori ausgeschlossen?

Kein flächendeckende Jubel

Die Mehrheit der deutschen Leichtathletinnen und Leichtathleten nahm die Neudefinierung der Olympia-Limits erwartungsgemäß mit Freude zur Kenntnis und lobten den DOSB für das positive Signal. „Ich finde es gut, deutschen Läufern eine Chance zu geben, die für eine Überraschung gut sind“, sagt etwa 3.000m-Hindernisläufer Martin Grau. Wer allerdings glaubt, alle deutschen Leichtathleten reagierten positiv, sieht sich getäuscht. „Ich sehe zwei Seiten: Für mich ist es positiv, weil die Chancen natürlich steigen, bei Olympia dabei zu sein. Auf der anderen Seite finde ich einige Anpassungen extrem. Ich messe mich an hohen Zielen und trainiere dann auch effektiver. Wir müssen uns fragen: Welchen Anspruch haben wir? Wollen wir Athleten, die dabei sind, oder welche, die vorne mitmischen. Ich sehe auch den Vergleich zu anderen Sportarten und denke dabei nicht nur als Leichtathlet. Andere Normen sind ebenfalls brutal hart. Olympia sollte etwas ganz Besonderes bleiben. Auch an ehemalige Athleten, die in früheren Jahren an den Normen gescheitert sind.“ Diese kritischen Worte kommen von 1.500m-Läufer Timo Benitz, selbst übrigens bisher weder Olympia- noch WM-Teilnehmer, der bei den gebetsmühlenartigen Erklärungen des DLV, nur eine ausgewählte Elite zu Olympia schicken zu wollen, besonders aufmerksam zugehört zu haben scheint – ohne an eigene Interessen zu denken oder gerade deswegen, weil er eine großartige Leistung wie eine Olympia-Qualifikation gegenüber sich selbst nur schätzen kann, wenn er sie nicht mit (zu) vielen Landsleuten teilen muss? Steffen Uliczka hob zwar das „positive Signal an alle Sportler“ hervor und freute sich über die gesteigerten Chancen, das Marathon-Limit doch noch zu schaffen (was bei 2:12:15 Stunden wohl eine Herkules-Aufgabe gewesen wäre), vergaß dabei aber nicht seine eigenen Leistungen der Vergangenheit ins glorreiche Licht zu stellen: „Vor vier Jahren habe ich mich für meine Olympia-Teilnahme über die Hindernisse gequält. Jetzt ist die Norm dort bei einer Zeit, die ich jedes Jahr gebracht habe. Vor diesem Hintergrund ist eine Olympia-Teilnahme vor vier Jahren mehr Wert, als sie in diesem Jahr sein wird.“ Auch wenn die Pro-Stimmen deutlich lauter waren, ist mehr Skepsis bei den Athleten umtriebig als erwartet.

Der Spagat zwischen zahlreichen Disziplinen

Ein Vergleich der Wertigkeit zwischen Olympia-Teilnahmen verbietet sich ohnehin. Denn eine Teilnahme an Olympischen Spielen ist im traditionellen Verständnis des Sports seit je her die größtmögliche Leistung für einen Athleten. Die einzigartige Atmosphäre des größten Sportfestes der Welt und die gesammelten Erfahrungen abseits und innerhalb der Wettkampfstätte verschmelzen zu einem unvergesslichen Erlebnis, das eine wichtige Motivationsgrundlage für das weitere sportliche Schaffen sein kann. Dass im Spitzensport des kommerziellen Zeitalters die romantische Vorstellung von „Dabei sein ist alles!“ keinen wirklichen Platz hat, ist einerseits für Nostalgiker zwar schade, aber in der heutigen Aufmerksamkeit unumstößliche Realität! Auch wenn in der öffentlichen Aufmerksamkeit gleich wie in der Gefühlswelt der meisten Spitzensportler nur Gold zählt – und wenn nicht Gold, dann Silber – und wenn nicht Silber, dann Bronze – und wenn schon keine Medaille, dann mindestens Finale: Auch in der heutigen Zeit gibt es zahlreiche leistungsfähige Sportler auf der ganzen Welt, die sich mit einer Teilnahme an den Olympischen Spielen einen Lebenstraum erfüllen. Diesen Traum können verstärkte Olympia-Limits deutscher Verbände wie dem DLV, der sich an absolute Spitzenplatzierungen orientiert und „Olympia-Touristen“ keine Startmöglichkeit geben will, natürlich verhindern. Andererseits bieten erschwerte Auswahlkriterien auch eine mentale Rampe: „Ich habe eine außergewöhnliche Leistung bereits vollbracht, um teilnehmen zu dürfen, also kann ich auch am Tag X Großartiges schaffen.“
Man muss die Diskussion differenziert sehen: Natürlich sollte nicht jeder Läufer, der den rechten Fuß vor den linken Fuß setzen kann und abwechselnd umgekehrt, unter Olympischen Ringen agieren dürfen. Aber sollten insbesondere junge und hoffnungsvolle Athleten, die in ihren Disziplinen auf europäischer Bühne ein sehr vernünftiges Niveau erreichen, so derb bestraft werden, dass bestimmte Sportarten oder Disziplinen an den Rand gedrängt werden? Ja und nein. Das Dilemma an der Sache ist die Bedeutung des Deutschen Leichtathletikverbandes in der internationalen Leichtathletik: Als eine der stärksten Nationen der Welt nimmt Deutschland in einigen technischen Teildisziplinen eine absolute Weltklasse-Stellung ein, in anderen – wie zum Beispiel im Langstreckenlauf – ist das bereits seit Jahrzehnten mit einen ganz wenigen Ausnahmen umgekehrt. Dank der afrikanischen Dominanz herrscht Ebbe. Da in der Leichtathletik aber ein Verband über derartig viele verschiedene Disziplinen entscheiden muss, braucht es auch eine Einheitlichkeit in den Richtlinien der Normen, um fair zu bleiben. Und die richten sich naturgemäß nach den glanzbringenden Disziplinen. Würden die Normen generell gesenkt, hätte der DLV das Problem, dass in manchen Disziplinen bedeutend mehr Athleten die Norm erfüllen als Startplätze beim Großereignis verfügbar. Was wiederum zu leidigen Diskussionen und Unruhe führt. Im Langstreckenlauf wie zum Beispiel im Marathon teilt die Deutsche Leichtathletik aktuell ein europäisches Problem: die afrikanische Überlegenheit, die Gedanken an Top-Platzierungen bei Olympia wegen Aussichtslosigkeit versanden lässt. Dies birgt aber die Gefahr, auf die die fünf größten Marathons Deutschland in einer Forderung an den Verband Ende letzten Jahres vehement hingewiesen haben. Ganze Disziplinen droht die Vernachlässigung und angesichts mangelnder Aussichten einer Olympia-Qualifikation ist das ein abschreckendes Signal in Richtung motivierter und potenziell leistungsfähiger Nachwuchssportler, was bei der finanziellen Potenz der deutschen Leichtathletik sicherlich nicht notwendig ist. Da die Marathon-Bewegung weltweit eine mächtige ist und vor allem im Freizeitsport eine berauschende Entwicklung genommen hat, wäre ein Fehlen nationaler Vorbilder ein bedenklicher Schritt in die falsche Richtung.

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